Der zweite Teil einer Recherche-Reihe: Die Rate an sozialinnovativen Gründungen in Deutschland steigt konstant an. Die Motivation wächst, unsere Gesellschaft nachhaltig mitzugestalten und neue (Lösungs-)Wege zu entwickeln. Doch ist dieses Phänomen deutschlandweit zu beobachten? Wir blicken über die Social Startup Szene Berlins hinaus und fragen gezielt: Wie viel Social Entrepreneurship steckt eigentlich in Ostdeutschland?
Angelina Probst von Social Impact begab sich diesmal auf Spurensuche in Thüringen und Sachsen, um einen Einblick über die Entwicklungen, Potenziale und Herausforderungen bezüglich regionaler Sozialgründungen zu erhalten.
Wie stark ist die Social Entrepreneurship-Szene in Thüringen ausgeprägt?
Laut ThEx-Gründerreport 2018 gab es 2017 in Thüringen 11.212 Gewerbeanmeldungen. Thüringen liegt dabei mit einer Selbstständigenquote von 8,5 Prozent etwas unterhalb des Bundesdurchschnittes von 9,8 Prozent. Bei Gründungen mit wirtschaftlicher Substanz (mehrere Beschäftigte gleich beim Unternehmensstart) rangiert Thüringen hingegen mit einem Anteil von 29,6 Prozent fast sieben Prozentpunkte über dem Bundesdurchschnitt auf Rang eins. Doch wie entwickelt sich das soziale Unternehmertum in der Region?
Mit Martin Arnold-Schaarschmidt (Social Entrepreneur, Berater und Förderer von Initiativen und Gründer*innen, u.a. im Gründerservice der Erfurter Fachhochschule, Gründungslabor werft34 und Plattform e.V.) möchten wir über seine Erfahrungen im Umgang mit sozialen Unternehmertum in Thüringen sprechen: „Social Entrepreneurship Ostdeutschland vor allem in Thüringen ist bisher kaum ein Thema. Im Social Entrepreneurship Netzwerk Deutschland e.V. gibt es bisher nur ein paar Einzelpersonen und kein Sozialunternehmen als Thüringer Mitglied. Hingegen lassen sich eine ganze Menge Organisationen an sich als Social Entrepreneurs klassifizieren, jedoch ohne das „Label“ selber zu kennen oder zu verwenden. Beispiele wären dabei im Bereich Energie (z.B. Bürgerenergiegenossenschaften), Landwirtschaft (z.B. Solawis, Schloss Tonndorf), Bildung (neue Schulen, Basement, Spirit of Football), Gesundheitsversorgung (z.B. Demenz-WGs, Tele-Angebote in betrieblicher Gesundheitsversorgung), auch im Bereich Digitalisierung (z.B. Sociallock).“
Welche Unterstützung oder Strukturen bräuchte es?
Martin Arnold-Schaarschmidt: „In stärkster Form wäre das eine unabhängige Interessenselbstvertretung, z.B. wie ein regionale Gruppe vom SEND e.V. und außerdem fehlen für diesen Bereich förderliche Rahmenbedingungen, wie Auftraggeber oder Prototyping-Finanzierung, Labore oder ähnliches. Es braucht mehr „Open Innovation“-Verständnis und Handeln bestehender Organisationen, die ja allesamt auch neue Mitarbeiter*innen und Produkte sowie Dienstleistungen suchen. Und das Übliche: Passende Förderlinien oder mehr Mittel über Auftragsvergaben.“
Was könnten Regierung oder Gesellschaft unterstützend tun, um mehr soziales Unternehmertum zu fördern?
Martin Arnold-Schaarschmidt: „So vieles! Zum Beispiel die Finanzierung: Mittelvergabe zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen/Aufgaben weniger als Fördermittel, sondern Auftragsvergabe sowohl an Organisationen mit wie ohne Gemeinnützigkeit. Zudem ein Förderprogramm (auch Mikroförderungen) für innovative, transformative Lösungen entlang der SDGs. Außerdem braucht es besondere Ausnahmebedingungen für Prototypenphase. Zum Beispiel Experimentierklauseln in den Rechtsrahmen, die es Organisationen erlauben, neue Ideen, Angebote, Vorgehensweisen im kleinen Rahmen zu testen. Damit nicht nur Konzepte geschrieben werden und nur Bewährtes oder rein Hypothetisches gefördert und umgesetzt wird. Ein weiterer Ansatz sind mehr Multi-Stakeholder-Prozesse und -Organisationen. Mehr Menschen sollten echt mitgestalten können. Damit würden viel häufiger sozial, positivere Lösungen herauskommen. Zuletzt braucht es mehr Fortbildungsmöglichkeiten und Empowerment von relevanten, beteiligten Akteuren in Verwaltung, Bildung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, um Social Entrepreneurship zu verstehen und um miteinander kooperieren zu können.“
Ann-Sophie Gruböck (Business & Network Development sowie ehemals ThEX Mentoring) ergänzt: „Generell ist der Druck ist nicht groß genug, um regional Veränderungen tatsächlich anzugehen und oftmals fehlt der Wille die Initiative zu ergreifen. Es lassen sich eher große Potentiale bei den sehr unternehmerisch-versierten Migrant*innen feststellen und bei vereinzelten Akteuren. Es braucht vor allem einen regelmäßigen Austausch mit Gleichgesinnten und Vorbildern, um gemeinsam Social Entrepreneurship in Ostdeutschland sichtbarer zu machen. Weniger Symptombehandlungen in den Kommunen und Problemregionen und eine besser vernetzte Analyse des Grundproblems und ergebnisoffene Zusammenarbeit von lokalen mittelständischen Unternehmen, Stadträten und Bürger*innen.“
Wenn Social Startups skalieren: Wie können Sozialunternehmen neue Talente und Mitarbeitende für ihre Vision gewinnen?
„Die positiven, relevanten Wirkungen müssen sichtbar werden. Je eindeutiger und sicherer „die Welt gerettet“ wird, die Möglichkeiten sieht in der Region direkt anzufangen und zu merken, dass man durch sein Zutun Entwicklungen bewirkt, desto größer sollte die Bereitschaft sein, dafür zu arbeiten – jenseits vom Gehalt. Auch die Norm ist wichtig: Trifft das auf alle anderen auch zu? Anstelle von Lohn können auch Leihgaben (Laptop, Telefon) oder Möglichkeiten (Reisen, Homeoffice, VIPs treffen) oder Anerkennung (Lob intern oder extern) angeboten werden. Und na klar Mitgestaltungsmöglichkeiten, Shareholdership, Spielraum…“, erklärt Martin Arnold-Schaarschmidt im Abschluss unseres Austausches.
Wie weit ist Social Entrepreneurship im Nachbarbundesland Sachsen bekannt?
Im Gegensatz zu Thüringen gibt es bereits aktive Gruppen vom Social Entrepreneurship Netzwerk Deutschland e.V. und Tino Kressner (Ansprechpartner für die Regionalgruppe Sachsen) erzählt uns: „Nicht Menschen sollten für Organisationen da sein, sondern Organisationen sollten für Menschen da sein. Spätestens 30 Jahre nach der Wiedervereinigung und dem damit verbundenen wirtschaftlichen Aufschwung in Sachsen, gewinnen soziale, zivilgesellschaftliche und ökologische Problemstellungen eine immer größere Bedeutung. In Sachsen sind über 2 Mio. Menschen erwerbstätig und können an genau der Lösung dieser Probleme mitwirken. Aktuell konnten wir bereits 45 Social Entrepreneurs in Sachsen identifizieren, die ihre Wirkungsmaximierung über die Profitmaximierung stellen. Leider gibt es in Sachsen noch kein Förderprogramm und keine politischen Rahmenbedingungen für diese Unternehmen. Daher hat sich die Regionalgruppe vom Social Entrepreneurship Netzwerk Deutschland in Sachsen gegründet und arbeitet gemeinsam mit über 20 Vertretern im Dialog mit Politik und Wirtschaft an neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen sowie der Aufmerksamkeit für diese neue Art des Wirtschaftens.“
Gründen in Sachsen
Auch wir haben eines unserer Social Impact Labs in Sachsen und unterstützen Existenzgründer*innen und Social Startups in der Start- und Gründungssphase inkl. Arbeitsplatz im Coworking Space, Beratung, Mentoring und Netzwerk.
Als etablierter Anlaufpunkt in Leipzig für Gründungsunterstützung im Sozialunternehmertum spricht Konrad Sell (Standortleiter vom Social Impact Lab Leipzig) mit uns über seine Herangehensweise: „Um Gründer*innen auf ihrem Weg von der Idee bis zur Implementierung einer gesellschaftlichen Innovation zu begleiten, haben wir das bisherige Präsenzstipendium in Blöcke, sogenannte Sprints, umgebaut. In den ersten drei Blöcken liegt der Fokus dabei auf dem Problem, analog zu den ersten beiden Phasen im Design Thinking. In dieser Zeit soll länger als bisher um das Problem gekreist werden. So viele Prototypen wie möglich sollen entwickelt und getestet werden; ein iterativer Prozess, der gezielt zum wiederholten Scheitern führen soll. Dann wird zunächst die Idee auf das Problem angepasst, und in einem zweiten Schritt auf das Gründungsteam. Unseren Gründer*innen sagen wir: bleibt flexibel im Kopf. Wenn etwas nicht funktioniert, entwickelt weiter.“
Wie viel Potenzial steckt denn nun für Sozialunternehmer*innen in Thüringen und Sachsen?
Gesellschaftliche Herausforderungen, Veränderungen hin zu neuen Herangehensweisen und eine Notwendigkeit für ein Umdenken bestehender Systeme ist für jedes Bundesland essenziell, um langfristige Zukunftsperspektiven für die eigene Region zu entwickeln. Social Entrepreneurship in Ostdeutschland erfährt dabei bislang als unternehmerischer Lösungsansatz noch wenig Aufmerksamkeit in Thüringen, etwas mehr in Sachsen. Es braucht vor allem politische Rahmenbedingungen, Förderprogramme, Wissensaustausch und eine Aufmerksamkeit für diese neue Art des Wirtschaftens. Nichtsdestotrotz sind erste Strukturen zu erkennen und wir hoffen auf eine Ausweitung von Social Entrepreneurship in Thüringen und Sachsen. Wir freuen uns mit dem Leipziger Lab daran beteiligt zu sein und Gründer*innen auf dem Weg zu ihrem Sozialunternehmen begleiten zu dürfen.
In unserem nächsten Beitrag wird ein Blick auf Social Entrepreneurship in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern geworfen.
Autorin: Angelina Probst
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