Kann ein Sozialunternehmen europaweit Strukturen im Gesundheitswesen verändern? Silke Mader hat vor sechs Jahren die europäische Netzwerkorganisation für Frühgeborene EFCNI (www.efcni.org) ins Leben gerufen. Die erfahrene Sozialunternehmerin und Ashoka Fellow Kandidatin berichtet über anspruchsvolle Lobbyarbeit, wichtige Win-Win-Lösungen und harte Lektionen eines Social Entrepreneurs.
EFCNI ist die erste paneuropäische Netzwerkorganisation für Frühchen und Neugeborene. Wie kam es zur Gründung dieser Initiative?
Die Idee dazu hatten der Neonatologe Dr. Matthias Keller und ich im Jahr 2007. Als Präsidentin des deutschen Elternverbandes und Betroffene konnte ich in den Jahren davor die öffentliche Aufmerksamkeit für die Problematik der Frühchen bereits schärfen. Dann kontaktierte mich ein in Zürich ansässiger Geschäftsmann, Jürgen Popp. Er und seine Frau hatten bei einer Frühgeburt Drillinge verloren. Gemeinsam entschieden wir, EFCNI ins Leben zu rufen, um europaweit aktiv zu werden. Der Geschäftsmann steuerte sein Kapital bei, der Neonatologe sein fachliches Netzwerk und ich mein Knowhow über den Aufbau einer Netzwerkorganisation. Unsere Vision ist, die Anzahl der Frühgeburten deutlich zu verringern und deren gesundheitliche Versorgung in Europa auf ein einheitlich gutes Niveau zu bringen.
Ist dieses Niveau denn so unterschiedlich ausgeprägt?
Die Frühchen-Rate reicht in den europäischen Ländern von knapp 5 Prozent bis hin zu 14 Prozent. Die nordischen Länder sind führend bei der Versorgung von Frühchen. Auch die Weiterentwicklung der Kinder im späteren Leben – ihr Überleben und ihre Lebensqualität – sowie die Hilfestellung für die Eltern sind dort sehr viel besser gewährleistet als beispielsweise in Deutschland. Hierzulande gibt es leider die höchsten Frühchen-Raten innerhalb Europas, gemeinsam mit Österreich und Zypern.
Die Medizin hat sich in den letzten Jahrzehnten stark weiterentwickelt. Ab welchem Zeitpunkt spricht man heute noch von einer Frühgeburt und warum ist gerade in Deutschland die Rate so hoch?
Als Frühgeburt bezeichnet man alle Babys, die vor der 37. Schwangerschaftswoche entbunden werden. Darunter gibt es Differenzierungen: Die späten Frühchen ab der 32. Woche bekommen häufig im Verlauf ihres Lebens Probleme mit der Lunge, mit der Gehirnentwicklung oder der Fähigkeit zur Aufmerksamkeit. Sie sind aber nicht so gefährdet für Schwerstbehinderungen wie die noch früher Geborenen. Dafür erhalten sie in der Klinik häufig eine schlechtere medizinische Versorgung: Sie sehen äußerlich einfach normaler aus. Die gesundheitlichen Spätfolgen werden deshalb oft unterschätzt. Die hohe Frühgeborenen-Rate in Deutschland liegt zum großen Teil daran, dass wir hierzulande keine gute Vorsorge für die gefährdeten Mütter anbieten. Die Schwangeren werden leider nicht zentral versorgt und erhalten keine ausreichende Aufklärung über Tabuthemen.
Welche konkreten Herausforderungen gilt es zu meistern, damit Deutschland einen ähnlichen guten Versorgungsstand erreicht wie die nordischen Länder?
Eine der drei Grundvoraussetzungen ist, überhaupt zu erkennen, dass es sich bei der werdenden Mutter um eine Risikoschwangere handelt. Indizien dafür reichen von Diabetes über Bluthochdruck bis hin zu einer Schwangerschaft im Alter von über 35 Jahren. Besonders wichtig ist es aber, ihre genaue Geschichte und die ihrer weiblichen Familienangehörigen zu ergründen. Daraus lässt sich ableiten, ob beispielsweise eine Anfälligkeit für Schwangerschaftsvergiftung (Präeklampsie) besteht, so wie es bei mir damals der Fall war. Solch eine Diagnostik ist in Deutschland leider noch nicht üblich. Dazu gesellen sich kulturelle Unterschiede: In den nordischen Ländern sind die Schwangeren im Schnitt deutlich jünger als in Deutschland. Die soziale Infrastruktur wie Kindergartenplätze und Rückkehrmöglichkeiten in den Beruf begünstigt dies. Aber auch die gesellschaftliche Akzeptanz einer frühen Schwangerschaft ist im europäischen Norden höher ausgeprägt. Eine zweite Voraussetzung ist die bessere Versorgung im Anschluss an eine erkannte Risikoschwangerschaft: Wird die werdende Mutter von einem Spezialisten weiterbetreut oder nicht? Ein deutscher Gynäkologe muss sich nicht speziell weiterbilden, um diese Risikogruppe versorgen zu dürfen. Der dritte Faktor liegt bei der Entbindungsklinik selbst. Wird die Schwangere in eine Klinik überwiesen, die über eine entsprechende Intensivstation verfügt? Genau dort setzt auch eine unserer Forderungen an: Risikoschwangere sollten nur in speziellen Zentren entbinden. Denn jeder Tag zählt. 24 Stunden mehr oder weniger bedeuten drei Prozent mehr oder weniger Überlebenschance für das Kind. Von einer höheren Lebensqualität gar nicht zu sprechen.
Ist dieser kausale Zusammenhang zwischen besserer Versorgung und niedrigerer Frühchen-Rate statistisch unterlegt?
Ja, es existieren aussagefähige Studien darüber. Daneben gibt es die positiven Beispiele von Ländern, die diese Vorsorge bereits seit Jahren erfolgreich umsetzen.
Welche konkreten Folgen hat die Gesellschaft zu tragen, falls keine Maßnahmen ergriffen werden? Anders ausgedrückt: Worin besteht der Social Impact, den EFCNI mit seinen Aktivitäten erreichen kann?
Von der wirtschaftlichen Seite her liegen die Folgen bei den hohen Kosten einer Frühgeburt sowie bei den zum Teil lebenslänglichen Betreuungs- und Versorgungsleistungen für Frühgeborene mit geistigen und/oder körperlichen Behinderungen. Auch die Sekundärkosten werden gerne übersehen: Mütter, die nicht oder erst spät in ihren Beruf zurückkehren; Familien, die keine weiteren Kinder bekommen, die der Gesellschaft dann als Erwerbstätige zur Verfügung stehen; hohe Scheidungsraten der Eltern sowie gesundheitliche und psychologische Folgen bei den Geschwistern von Frühchen; körperliche und seelische Folgen der Eltern bei der Betreuung eines behinderten Kindes; bis hin zu dem erhöhten Risiko der weiblichen Frühchen, als Erwachsene erneut ein Frühchen zu entbinden. Dazu kommen noch Schul- und Ausbildungskosten, da ein hoher Prozentsatz der Frühchen mehr Zeit und Betreuung beim Lernen benötigt als regulär geborene Kinder. Der makaberste Fall einer ökonomischen Rechnung ist sicher der Tod des Kindes und/oder der Mutter. Aber er gehört dazu. Diese Kette an Konsequenzen, vor allem an menschlichen, lässt sich nahezu endlos fortsetzen.
Wenn man Aufwand und Nutzen einer besseren Prävention gegenüberstellt, dann müsste sich diese Investition doch eigentlich mehr als lohnen.
Mit Sicherheit. Deshalb ist es uns auch so wichtig, dass Frühgeburten so gut wie möglich verhindert werden und die Versorgung von Frühchen in der Klinik optimal stattfindet. Eltern und Kinder sollten gestärkter aus dieser Erfahrung hervorgehen. Darüber hinaus muss die Gesellschaft besser informiert werden, damit eine Inklusion der Kinder danach gelingt. In Bezug auf die Präeklampsie wurden Aufwand und Nutzen einer besseren Prävention bereits in einer Effizienzstudie untersucht. Die Screening-Kosten lagen definitiv niedriger als die Folgekosten – und dies ist nur eine der vielen Ursachen für Frühgeburten.
Welche Aktivitäten hat EFCNI gestartet, um seine Vision in die Realität umzusetzen?
Wir stellen für jeden der drei Abschnitte – Prävention, Betreuung und Nachsorge – Informations-Säulen zur Verfügung. Die erste Säule: Wir klären durch Broschüren und Internetplattformen über Vorsorgemaßnahmen und Kontaktadressen für eine gesunde Schwangerschaft auf. Unsere Unterlagen werden in mehrere Sprachen übersetzt und in enger Zusammenarbeit mit den Fachgesellschaften entwickelt. Dann streuen wir sie über die Gynäkologen-Netzwerke oder über Social Media, damit sie bei den schwangeren Frauen ankommen. Die zweite Säule ist die Politik. Ich gebe zu, dass es manchmal schwierig ist, Politikern ein Problembewusstsein in Bezug auf das Risiko von Früh- oder Totgeburten zu vermitteln. Manche denken sich: „Das war ja früher auch schon so“. Das Thema wurde in der Vergangenheit oft tabuisiert und übergangen. Heute kann man offener darüber reden. Die dritte Informations-Säule findet über die Fachleute statt. Wir versuchen, das Kurrikulum eines Gynäkologen, Geburtshelfers oder einer Hebamme dadurch zu erweitern, dass Training und Ausbildung rund um die Themen Frühgeburt und Nachbetreuung der Mütter hinzukommen. Unsere Philosophie lautet: Wir verkaufen nichts, sondern wir bieten kostenlose Informationen an.
Eines Eurer Projekte sind die „European Standards of Newborn Health“. Was genau wollt Ihr damit erreichen?
Wir wollen mit den Fachgesellschaften und Top-Experten in den europäischen Ländern einheitliche Standards erarbeiten. Dabei geht es um Richtlinien wie dem richtigen Transport der Mutter, der notwendigen Ausbildung der Betreuer und der vorhandenen Ausrüstung in den Kliniken.
Haben diese Standards Empfehlungscharakter oder sollen sie verbindlich werden? Letzteres würde vermutlich hohe Investitionen bei europäischen Kliniken und Ärzten nach sich ziehen.
Ein großer Vorteil ist, dass wir die europäische Fachgesellschaft für Krankenhäuser, HOPE, gewonnen haben. Sie wird das Projekt aktiv mit erarbeiten und einführen. Man kann solche Standards nur empfehlen. Gesundheit ist eine nationale Angelegenheit. Wir konnten jedoch die 50 relevanten Fachgesellschaften in der EU als Partner mit ins Boot bekommen. Dadurch ist es recht wahrscheinlich, dass eine Akzeptanz auch auf Länderebene folgen wird. Gleichzeitig bauen wir politischen Druck mithilfe der Elternorganisationen auf. Der Hebel soll von oben wie auch von unten wirken. In manchen Ländern wie Bulgarien oder Rumänien wird dieser Prozess aber sicher schwierig werden. Die finanziellen Mittel sind dort knapp. Deshalb haben wir uns auch entschlossen, Basis-, Silber- und Gold-Standards einzuführen, je nachdem, was sich das jeweilige Krankenhaus leisten kann. Der Basis-Standard wird dem Kind zumindest eine gute Überlebenschance sichern. Er wirkt wie ein Airbag, der in einem Fiat Panda wie auch einem Porsche steckt.
Es war sicher nicht leicht, 50 verschiedene Organisationen für Euer Projekt zu gewinnen.
Das stimmt. Wir haben zwei harte Jahre Arbeit dafür investiert. Es mussten auch einige Egos überwunden und Rollen definiert werden, bis alle mit im Boot waren. Unser Vorteil ist, dass wir eine neutrale Instanz sind, die diese Aufgabe übernommen hat. Die wichtigsten Fachleute sind zudem als Chairpersons und Vice Chairpersons eingebunden. Das Projekt ist auf 5 Jahre ausgelegt. In drei Jahren wollen wir so weit sein, dass wir die Inhalte in den Kategorien Basis, Silber und Gold fertig erstellt haben.
Wie finanzieren sich solche Projekte und die Aktivitäten von EFCNI?
Wir verfügen nur über eine Mindestsumme an Stiftungskapital. Von den Zinsen könnten wir nicht leben. Wir erhalten Sponsorships von globalen Firmen aus dem Pharma-, Gesundheits- und Ernährungsbereich. Beispiele sind Nestlé, Shire oder Dräger, die langfristige Verträge mit uns unterschreiben und die Projekte über „Grants“ finanzieren.
Kommen diese Gelder vorwiegend aus dem Corporate Social Responsibility (CSR)-Budget dieser Firmen?
Das ist durchaus unterschiedlich. Bei manchen Sponsoren fließen die Gelder aus ihren Werbebudgets, bei anderen wiederum aus dem Bereich „Educational Training“ oder „Social Responsibility“. Wir gehen jedoch sehr strikt damit um. Alle Sponsoren und Teilnehmer des Projekts müssen Verschwiegenheits-Verpflichtungen und Interessenskonflikt-Erklärungen unterzeichnen.
Geschieht das, um eine potentielle Einflussnahme auf das Projekt zu verhindern?
Genau. Wir wollen die Neutralität wahren und haben uns deswegen an die entsprechenden WHO-und EMA-Richtlinien gehalten. Diese gestehen Firmenvertretern nur einen Beobachter-Status ohne Stimmberechtigung zu. Außerdem soll die Verschwiegenheitsverpflichtung dafür sorgen, dass wir die Ergebnisse des Projekts in drei Jahren mit einem „Big Bang“ veröffentlichen können und nichts davor durchsickert. Danach geht es direkt in die Implementierung. Diese Phase wird realistischer Weise dann zwischen 10 bis 20 Jahre dauern, je nach Land. Das Ziel ist, Arztpraxen und Krankenhäuser langfristig auf diese Standards hin zu zertifizieren. Damit können sie Patienten werben.
Stichwort Zukunft: Welche Pläne habt Ihr in Bezug auf die weitere Finanzierung und den Ausbau von EFCNI?
Die Sponsorships unterstützen sowohl unsere Organisation, als auch unsere Projekte. Als eine Art Metaorganisation sind wir leider nicht die typischen Empfänger für die klassische 5-Euro-Spende. Lächelnde Kindergesichter funktionieren bei uns als Werbeträger nicht. Größere Spenden an unsere gemeinnützige Stiftung kommen vor, werden aber mit dem Spender immer projektbezogen abgestimmt. Grundsätzlich versuchen wir, die Verwendung der Gelder nicht zu streuen, sondern sehr gezielt einzusetzen, damit sie ihre volle Wirkung entfalten. Wir würden eher das gesamte Team einer einzigen Frühchen-Station weiterbilden als nur einen Mitarbeiter pro Station in mehreren Kliniken. Solche Aktionen versickern meiner Meinung nach.
Wenn ich das richtig verstehe, dann verpflichten sich Eure Sponsoren für die komplette Dauer des Projekts. Ein vorzeitiger Ausstieg ist nicht möglich?
Nein. Das ist eine der Lektionen, die ich auf die harte Tour lernen musste. Eine ungeplant in der Luft hängende Finanzierung kann den guten Ruf von EFCNI gefährden. Deshalb schließen wir mit den Sponsoren nur noch verbindliche Verträge über mindestens drei Jahre Laufzeit ab. Wenn sie danach aussteigen möchten, darf das Projekt laut Vertrag einem Konkurrenten angeboten werden. Auch mit meinen Reisen gehe ich inzwischen noch vorsichtiger um. Bekomme ich eine Einladung, kläre ich meine Kostenerstattung inzwischen im Vorfeld ab. 1.000 Euro mehr oder weniger sind für mich als Sozialunternehmerin sehr viel Geld.
Sind das die harten Lektionen aus dem Leben eines Social Entrepreneurs?
Ja, leider. Eine weitere Lektion ist, dass man sich das gesamte geistige Eigentum im Voraus immer schützen lassen sollte: ein Projekt, ein Logo, ein Name, eine Idee. Unsere Erfindung des Weltfrühchen-Tags wird jetzt zum Beispiel fleißig von einer amerikanischen Charity promoted. Die Marketing-Idee einer Socken-Kampagne, in der ein Frühchen pro zehn neugeborener Kinder mit einer lilafarbenen statt einer weißen Socke auf der Wäscheleine hervorgehoben wird, haben wir uns im Vorfeld deshalb sichern lassen. Die nächste Lektion lautet: immer Verträge schließen und diese von Partner-Experten prüfen lassen. Und die vorläufig letzte Lehre: Man sollte sich immer trauen, nach einem Discount, einer Leistung oder einem Extra zu fragen. Mehr als ein nein kann man nicht bekommen. Aber es sollte eine Win-Win-Lösung für beide Seiten sein. Darauf habe ich zu achten gelernt. Profitieren beide Seiten, ergeben sich langfristig stabile Beziehungen. Als Sozialunternehmer muss man immer bereit sein, dazuzulernen und sich infrage zu stellen. Kritik zu hören und anzunehmen bedeutet ja nicht, dass man sich deshalb gleich nach dem Wind drehen muss.
Was ist aktuell Dein größter Wunsch als Sozialunternehmerin in Bezug auf Verbesserungen im deutschen Ökosystem?
Ich wünsche mir vor allem, dass sozial engagierte Menschen eine höhere Anerkennung in der Gesellschaft erfahren. Sie sollten weniger belächelt oder ausgenutzt werden. Sozial bedeutet für viele Menschen und Firmen leider, dass der Betreffende alles umsonst und ehrenamtlich macht. Manchmal frage ich provokativ zurück, ob mein Gesprächspartner denn auch bereit ist, 70 Stunden pro Woche umsonst zu arbeiten. Dieses Phänomen spiegelt eine Kultur, die in Europa noch sehr verbreitet ist. Darüber hinaus wünsche ich mir mehr Spendenbereitschaft für Organisationen wie die unsere, welche über Ländergrenzen hinaus Strukturen verändern wollen. Wer eine breite Wirkung in der Gesellschaft erreichen will, ist meines Erachtens genauso wichtig für das Ökosystem wie solche Sozialunternehmen, die gezielt einzelne Menschen und Familien unterstützen. Insofern würde ich mich sehr freuen, als Ashoka Fellow ausgewählt zu werden. Die Möglichkeit, Erfahrungen mit anderen Unternehmern auszutauschen, die wie ich von einer starken sozialen Mission angetrieben werden, ist für mich unglaublich wertvoll.